Angekommen in der nicht walzerseligen Moderne

Champagner Musicale: Philharmonischer Verein überrascht rund 450 Zuhörer in Aschaffenburger Stadthalle mit »Ravel meets Gershwin«

Von unserer Mitarbeiterin
MELANIE POLLINGER

ASCHAFFENBURG. Prosecco trinken und plaudern in der Pause zwischen »Summertime« und Liedern aus 1001 Nacht: Das ist eher die angenehme Randnotiz gewesen bei der Konzertgala Champagner Musicale in der Aschaffenburger Stadthalle. Was den rund 450 Besuchern deutlich mehr unter die Haut gehen konnte als das angenehme Ambiente, war die Nähe des Programms »Ravel meets Gershwin« zum Hier und Jetzt.

Im aktuellen Kontext war es nicht einfach, sich bequem zurückzulehnen und das vom Philharmonischen Orchester unter Leitung von Steven Lloyd-Gonzales exzellent umgesetzte Programm zu genießen. Unter dem Titel »Ravel meets Gershwin« hatte der veranstaltende Philharmonische Verein Aschaffenburg unter Vorsitz von Carsten Schumacher reizvolle und dabei technisch höchst anspruchsvolle Kompositionen an der Schwelle zur Moderne zusammengestellt. Den Gesangspart bestritt die neuseeländische Mezzosopranistin Bianca Andrew, mal mit großer emotionaler Leuchtkraft, mal mit feinstem, fast zerbrechlichem Nuancenreichtum.

»La Valse« von Ravel

Wer sich schon in der Pause auf den abschließenden Höhepunkt des Abends, »La Valse« von Ravel, freute, kam beim Nachlesen im – wie immer sehr informativen – Programmheft ins Grübeln. Von einer »Apotheose des Wiener Walzers« hatte der Komponist des am 12. Dezember 1920 in Paris uraufgeführten Orchesterwerks geschrieben und das Datum 1855 genannt. Wien 1855: Da war Ministerkonferenz zur Beilegung des Krimkriegs. Ein Jahr später wurde in Paris Frieden geschlossen, der eine Zeit lang hielt.

Und heute? Ein Krieg um die Krim nicht auszuschließen. Russland droht der Ukraine. Europa verhandelt, die USA bringen auch Waffen in Position. Derlei Gedanken wurden nicht leiser, je mehr in »La Valse« die wunderschönen Trugbilder von verliebten Paaren, die sich beim Kaiserwalzer drehten, verschwammen. Irre Dissonanzen und blanker Wahnsinn türmten sich auf bis zum chaotischen Ende.

Lloyd-Gonzales meißelte mit dem neu formierten Orchester aus Profi-Musikern schonungslos alle Schrillheit und Härte heraus aus Ravels Klanggemälde, das duftig leicht und lichtdurchflutet begonnen hatte. Impressionismus pur und irisierend schöne Momente gab es darin, wie schon zuvor in den »Shéhérazade«-Liedern, mit denen der französische Klangmagier Geschichten von Liebe und Tod erzählte. »Asien« schilderte ferne Länder, Prinzessinnen und Gelehrte – und Blutvergießen. Ein Henker, der einem Unschuldigen den Kopf mit dem Säbel abschlägt, während der richtige Mörder im Verborgenen lächelt.

Bianca Andrews Stimme verleiht diesem Moment eine fast frivole Faszination. Die Nähe des Todes, »das Sterben aus Liebe oder an Hass«, wie es im Text heißt, bekommt etwas beunruhigend Konkretes, bevor das Lied mit einer Geschichtenerzähler-Szene endet. Die »Neugierigen auf Träume« hängen an den Lippen dessen, der immer wieder an seiner alten arabischen Tasse nippt, bevor er weitererzählt. Zum Beispiel von »La flûte enchantée«, der verzauberten Flöte, die im Orchester realen Zauber verstrahlt. Oder vom gleichgültigen Jüngling, der zutiefst enttäuschte Herzen hinterlässt, in Klänge gekleidet, die den Ohren bewusst wehtun.

Im ersten Teil des Abends, der dem Amerikaner George Gershwin gewidmet war, überwog die unbeschwerte Freude am Zuhören. Und doch war schon die Rede von Aggression und Zwietracht unter den Völkern in Gershwins Musical »Strike Up The Band« von 1927, wenn auch als Parodie: Amerikanischer Käsefabrikant erklärt der Schweiz den Krieg.

Ein Klangfeuerwerk mit prasselnden Rhythmen brannte das Orchester mit der Ouvertüre zu »Strike Up the Band« ab. Messerscharfe Bläser und Trommelsalven jagten die Spannung hoch, die Streicher setzten einschmeichelnde warme Walzermelodien dagegen. Als zweite hinreißende Ouvertüre gab es die zum Musical »Girl Crazy«, mit wilder Verfolgungsjagd bei Ragtime-Rhythmen und verliebtem Dreivierteltakt im Wechsel. Auch hier jazziger Bläserklang zum Abheben und Percussion in reicher Variation. Klanghölzer, Bongos und Maracas kamen zum Einsatz in der Cuban Ouverture«, die entgegen ihrem Namen ein komplettes Orchesterstück ist, das ursprünglich »Rumba« hieß. Am 16. August 1932 wurde es von den New Yorker Philharmonikern uraufgeführt, während sich in Deutschland schon der braune Terror formierte.

Weit weg träumen konnte man sich in den Songs, die Bianca Andrew mit menschlicher Wärme erfüllte: »Fascinating Rhythm« aus dem Musical »Lady, be Good«, »He Loves and She Loves« aus Funny Face« und die weltberühmte Ballade »The Man I Love«. Ein unvergessliches Erlebnis war »Summertime«. Das Orchester, das sich beim Begleiten der Sängerin schon zuvor sehr zurückgenommen hatte, skizziere hier spinnwebfein und doch intensiv die Klangfarben eines Südstaaten-Sommers, in dem die Zeit stehenzubleiben schien.


Hintergrund: Steven Lloyd-Gonzales und Bianca Andrew

Der international tätige britische Dirigent Steven Lloyd-Gonzales ist vor zwei Wochen kurzfristig für den erkrankten Leiter des Philharmonischen Orchesters Aschaffenburg, Michael Millard, eingesprungen. Lloyd-Gonzales arbeitete mit den Londoner Philharmonikern und dem Schottischen Ensemble, dem königlichen Sinfonieorchester Oman und dem Kairoer Sinfonieorchester. Bis 2018 war Lloyd-Gonzales Chefdirigent des Kur-Sinfonieorchesters Bad Nauheim und leitet seit 2018 als Gastdirigent das Capitol Symphony Orchestra Offenbach. Vor einigen Wochen spielte Lloyd-Gonzales mit dem BBC-Orchester von Wales die 6. und 9. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch ein. Die Aufnahme soll im Oktober herauskommen.

Keine Unbekannte beim Aschaffenburger Champagner Musicale ist die neuseeländische Mezzosopranistin Bianca Andrew aus dem Ensemble der Oper Frankfurt. Andrews war bis 2018 Mitglied des Opernstudios der Oper Frankfurt und als solches schon zu Gast bei der Aschaffenburger Gala. 2016 wurde Andrew mit dem Song Prize der Kathleen Ferrier Awards London ausgezeichnet und 2021 mit dem Anny-Schlemm-Preis. (mel)

 Quelle: Main-Echo

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