Dissonanzen in der Orchesterlandschaft

Kultur: Der Philharmonische Verein Aschaffenburg und das Collegium Musicum haben sich getrennt – Die Geschichte einer Entfremdung

Von unserem Redakteur
 ALEXANDER BRUCHLOS

ASCHAFFENBURG. Das Aschaffenburger Orchester Collegium Musicum und der Philharmonische Verein gehen getrennte Wege. Wie kürzlich bekannt wurde, hatte die Mehrheit der Vereinsmitglieder in einer Mitgliederversammlung im November beschlossen, das Collegium Musicum nicht mehr zu unterstützen. Dafür war eine Satzungsänderung erforderlich, denn der Philharmonische Verein war 2004 von Alfred Kalb gegründet worden, um »insbesondere das Collegium Musicum« zu fördern, wie es in der alten Satzung hieß.

Die Vorsitzende des Collegium Musicum Christina Lafrenz und der Aschaffenburger Kulturamtsleiter Jörg Fabig bedauern den Schritt. Auch im Philharmonischen Verein sind offenbar einige Mitglieder von dem neuen Kurs enttäuscht: Der Ehrenvorsitzende Klaus Schymke, der sechs Jahre lang den Philharmonischen Verein geleitet hatte, legte im Februar seinen Ehrenvorsitz nieder und erklärte seinen Vereinsaustritt. Er begründet dies in einem Schreiben an Mitglieder des Vereins mit der »Art und Weise, wie miteinander umgegangen wird«. Näher möchte sich Schymke auf Nachfrage der Redaktion öffentlich nicht dazu äußern.

Die Entfremdung war offensichtlich, als die jahrzehntelang vom Collegium Musicum gestaltete Veranstaltung »Champagner Musicale« sowie ein weiteres Orchesterkonzert des Philharmonischen Vereins im vergangenen Jahr erstmals von einem Ensemble mit dem Namen »Philharmonisches Orchester Aschaffenburg« gestaltet wurde. Das Collegium Musicum seinerseits gab im Sommer 2021 ein von der Stadt Aschaffenburg veranstaltetes Open-Air-Konzert im Nilkheimer Park. Im Spätherbst folgte eine Aufführung von Tschaikowskys Nussknacker-Suite für Aschaffenburger Schüler.

»Weiterentwicklung«

Von einer »Trennung«, wie das Collegium Musicum im Dezember in einer Rundmail an seine Mitglieder den im November vollzogenen Schritt bezeichnet, will Carsten Schumacher, seit 2018 Vorsitzender des Philharmonischen Vereins, nicht sprechen. Er bezeichnet das Philharmonische Orchester als eine »Weiterentwicklung« des Ensembles, in dem weiterhin viele Collegium-Musiker mitspielten, »Leistungsträger« wie Schumacher sie nennt. Er räumt allerdings ein, dass nur etwa »zwei Drittel aller Collegium-Mitglieder« in das neue Ensemble übernommen wurden. Die meisten von ihnen spielen nun in beiden Ensembles. Befragt nach dem Einzugsbereich des Philharmonischen Orchesters nennt Schumacher das »Dreieck Würzburg-Darmstadt-Frankfurt«.

Doch wer bestimmt die Zusammensetzung des neuen Philharmonischen Orchesters Aschaffenburg? Die Besetzung erfolge gemeinsam »mit den Stimmführern und dem Dirigenten Michael Millard und richtet sich nach den Bedürfnissen des Programms«, so Schumacher. Unter anderem habe man die Blechbläser neu besetzt. Die von ihm gestalteten Programme seien »technisch sehr anspruchsvoll«, räumt Schumacher ein. Gershwins kubanische Ouvertüre oder Ravels »Sheherazade«, die bei der Champagner Musicale an diesem Samstag in der Aschaffenburger Stadthalle erklingen, hätten sich mit dem Collegium Musicum nicht realisieren lassen, ist Schumacher überzeugt.

»Die Verjüngung und Verpflichtung sehr guter Profimusiker« sehe er als Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit des Orchesters. Und: »Nur mit einem interessanten, anspruchsvollen Repertoire lassen sich Eintrittspreise von bis zu 40 Euro rechtfertigen.« Das Niveau wolle er auch bei den weiteren Konzerten in diesem Jahr halten: Zu hören sein werden Kompositionen, »die von Tourneeorchestern in Aschaffenburg noch nie gespielt wurden«. Anders als das Collegium Musicum, das seine Semiprofessionalität stets betont habe, sei das Philharmonische Orchester »ein professionelles Orchester, das ausschließlich aus studierten Profimusikern« bestehe, so Schumacher weiter.

»Jede Strukturänderung wird kontrovers diskutiert«, ist der Vereins-Vorsitzende überzeugt. Er räumt ein: »Es gab nicht bei allen Jubelrufen. Unsere Entscheidungen haben mir bei einigen Mitgliedern des Collegium Musicum natürlich keine Sympathiepunkte eingebracht.«

In der Vereinsentwicklung indes sieht sich Schumacher in seinem Kurs bestätigt: Insbesondere die Anzahl von Kuratoren, die sich finanziell überdurchschnittlich im Philharmonischen Verein engagierten, habe man verdoppeln können. Auch neue Sponsoren habe der Verein gewinnen können.

Aber war der Bruch mit dem Collegium wirklich unausweichlich, wie Schumacher schildert? Es seien zahlreiche Vermittlungsversuche unternommen worden, sagen Kulturamtsleiter Jörg Fabig und Christina Lafrenz, Cellistin und Vorsitzende des Collegium Musicum. »Wir hatten die Hoffnung, dass der Philharmonische Verein gemeinsam mit einem gewachsenen Orchester wie dem Collegium Musicum neue Ideen angeht«, sagt Lafrenz. Letztlich sei eine Einigung mit dem Philharmonischen Verein nicht möglich gewesen. Sie wirft dem Vorstand vor: »Es bestand keine Kompromissbereitschaft.«

Dabei sei es insbesondere um die Besetzung des Collegium Musicum gegangen, erläutert Fabig. »Die Programme müssen der Spielfähigkeit des Orchesters angepasst werden. Und nicht umgekehrt.«

Dass Schumacher das vom Philharmonischen Verein gebildete Orchester unter dem Namen Collegium Musicum weiterführt, wollten weder der Collegium-Vorstand noch Fabig zulassen. »Da haben wir uns gewehrt«, sagt Lafrenz. »Das Collegium Musicum ist das Orchester der Stadt Aschaffenburg«, bestätigt Fabig.

Die Stadt halte an der Zusammenarbeit mit dem Collegium Musicum fest, so Fabig, der vor seinem Amtsantritt als Leiter des Kulturamts 2020 selbst viele Jahre Mitglied des Collegiums war. Er verweist auf den pädagogischen Charakter des Ensembles und die Tradition: Das Collegium sollte allen Musikschullehrern, die ein Orchesterinstrument spielen, ermöglichen, in einem Orchester zu spielen. Damit sei es »ein Baustein in der pädagogischen Arbeit der Musikschule und des Kulturamts«.

Das Collegium Musicum ermögliche außerdem hochbegabten Musikschülern, in ein Orchester hineinzuwachsen. Durch das Collegium Musicum habe er als Musiklehrer jungen Menschen Orchestererfahrungen vermitteln können, die sonst keinen Zugang zu Orchestern und klassischer Musik gehabt hätten, sagt Fabig.

»Große Emotionalität«

Der pädagogische Anspruch wird laut Christina Lafrenz vom Publikum mitgetragen. Sie schwärmt von der »großen Emotionalität« der Collegium-Auftritte, »die auf das Publikum überspringt«. Das Collegium habe stets eine breite Hörerschaft angesprochen, auch jenseits des üblichen Klassik-Publikums.

Was bedeutet die Trennung für das Collegium? »Wir planen nun verstärkt Konzerte mit anderen Veranstaltern«, so Lafrenz. Neben den Schlosskonzerten der Stadt und den traditionellen Advents-Konzerten in der Stadthalle, setze das Ensemble neuerdings auch auf kleinere Formate.

Mittlerweile hat das Collegium Musicum einen eigenen Förderverein gegründet. »Es gibt Leute, die in den Philharmonischen Verein eingetreten sind, um das Collegium Musicum zu unterstützen. So etwas wollen wir mit unserem Verein weiterhin ermöglichen«, so Lafrenz. Das Geld benötige man etwa für Workshops mit externen Dirigenten.

Wie bewerten andere Musiker des Collegium Musicum die Lage? »Es hat ganz schön geruckelt«, beschreibt Flötistin Ute Heininger-Lippert die November-Sitzung des Philharmonischen Vereins. Ihr Mann, der Cellist Andreas Lippert, war jahrzehntelang Sprecher des Collegium Musicum und ein enger Vertrauter des Gründers des Philharmonischen Vereins, Alfred Kalb. Er habe seinen Posten 2020 niedergelegt, betont Andreas Lippert. Unter anderem, weil das Arbeitspensum immens gestiegen und neben seinem Beruf als Musiklehrer kaum zu bewerkstelligen gewesen sei.

Ute Heininger-Lippert sagt, sie habe am Collegium Musicum stets die familiäre Atmosphäre geschätzt, und dass hier alle Altersgruppen vertreten gewesen seien: vom Schüler bis zum Pensionär. Das breitgefächerte Programm sei stets den Fähigkeiten der Orchestermitglieder angepasst gewesen. »Begabte Schüler spielten neben Pensionären, Profis und Amateuren, der Oberstaatsanwalt saß neben einer Geflüchteten.« Im neuen Philharmonischen Orchester sei fast ausschließlich die mittlere Altersgruppe zwischen 30 und 60 vertreten, hat sie beobachtet.

»Etwas völlig anderes«

Heininger-Lippert räumt ein, dass der der Philharmonische Verein nun ein »professionelles Management« habe und sich »etwas traue«. Kooperationen des Philharmonischen Vereins etwa mit dem Opernstudio der Oper Frankfurt nennt Heininger-Lippert »beachtlich«. Aber das neue Ensemble sei »etwas völlig anderes.«

Es gebe unter den Vereinsmitgliedern sehr viele unterschiedliche Positionen, so Heininger-Lippert weiter. Sie sei aber zuversichtlich, dass sich die entstandenen Wogen mit der Zeit glätteten.

Fest steht: Mit dem Philharmonischen Orchester wird die Orchesterlandschaft in Aschaffenburg um ein weiteres Orchester erweitert. Es gibt weiterhin die Orchestervereinigung, die Junge Kammerphilharmonie und das Collegium Musicum, in dem weiterhin auch Mitglieder des Philharmonischen Orchesters spielen.

Das Kulturamt wird laut Fabig weiterhin das Collegium Musicum für Veranstaltungen buchen und die Konzerte des Philharmonischen Vereins und der anderen Orchester auch künftig nach den städtischen Richtlinien fördern. Ob sich genügend Publikum für alle Formate findet, werde sich zeigen.

Hintergrund: Collegium Musicum

Die Geschichte des Collegium Musicum Aschaffenburg reicht ins Jahr 1968 zurück. Dirigent Joseph Zilch knüpfte mit der Gründung des CM an die Tradition der Aschaffenburger Schlosskonzerte an, die mit der Zerstörung des Schlosses im Krieg geendet hatte.

Als Anfang der 1990er-Jahre das Aus des Ensembles drohte, engagierte sich neben der Stadt Aschaffenburg auch der Fabrikant Alfred Kalb mit Gleichgesinnten für den Erhalt des Ensembles, das bis heute aus professionellen Lehrern der Städtischen Musikschule und der Region sowie Nachwuchstalenten besteht. Kalb etablierte 2004 mit der Gründung des »Philharmonischen Vereins« einen Kreis an Sponsoren, der sich die Unterstützung des Collegiums zur Aufgabe machte. Bis 2018 prägte vor allem der langjährige künstlerische Leiter Hubert Buchberger die musikalische Arbeitsweise und Ausrichtung der Konzertprogramme. Im Laufe der Jahre steigerte sich die Vielfalt der Konzertformate. Neben Champagner Musicale und den Schlosskonzerten gestaltete das Collegium die Filmmusik-Reihe Cinemusic und die Musik- und Tanzkooperation Rhythm in Concert. Hinzu kamen zahlreiche Kooperationen mit Chören der Stadt. (ab)

 

Hintergrund: Der Philharmonische Verein Aschaffenburg

Der 2004 von dem Fabrikanten und Mäzen Alfred Kalb (1932 bis 2019) und Gleichgesinnten gegründete Philharmonische Verein, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die klassische Musikkultur in der Region zu fördern. Im Fokus stand bis 2020 die Unterstützung des Orchesters Collegium Musicum. Daneben engagierte sich der Verein bei der Nachwuchsförderung mit Jungen Solisten, den Streicherworkshop für fortgeschrittene Musikschüler in Kooperation mit der Stadt. Der Verein organisierte Konzertreihen wie Champagner Musicale, Cine-Music, Rhythm in Concert, zum Teil mit Schülern der Gymnasien der Region.

Unter dem gebürtigen Nürnberger Klaus Schymke, der 2012 den Vorsitz des Vereins übernahm, kamen Sonderveranstaltungen dazu, die den Fokus auf einzelne Komponisten wie Wagner und Prokofjew legten. Unter Schymke stieg die Mitgliederzahl von 120 auf »knapp 300«, wie der scheidende Schymke 2018 im Gespräch mit der Redaktion erläuterte. Carsten Schumacher, der 2018 die Nachfolge Schymkes antrat, setzte unter anderem die Tradition der Kennenlern-Konzerte und des Champagner Musicale-Formats fort.

Dauerhafter Dirigent des neu gegründeten Philharmonischen Orchesters Aschaffenburg ist der Mainzer Kapellmeister Michael Millard. Festhalten will der Verein mit seinen aktuell 316 Mitgliedern an den Workshops für junge Streicher. Der nächste ist Ende Mai 2022 geplant. Auch eine »Orchester-Akademie« für junge Talente schwebt dem neuen Vorstand vor. Zu den neuen Konzert-Formaten des Vereins zählen auch Kammermusik-Konzerte im Glattbacher Mühlen-Forum. (ab)

Champagner Musicale am Samstag, 19.Februar, 19.30 Uhr Stadthalle am Schloss.

 Quelle: Main-Echo

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Champagner Musicale: »Ravel meets Gershwin« in der Stadthalle