»Abend mit einkomponierter Gänsehaut«
Main-Echo 20.10.2025 // MELANIE POLLINGER
Klassik: Pianistin Elena Melnikova und Philharmonisches Orchester Aschaffenburg begeistern mit »Rachmaninow kennenlernen«
Das vielleicht schwerste Klavierkonzert der Welt – Komponist Sergej Rachmaninow nannte sein d-Moll-Konzert selbst ein »Konzert für Elefanten« – kann wundervoll klar, fein strukturiert und trotz aller emotionaler Wucht frei von Erdenschwere klingen: Das haben Solistin Elena Melnikova und das Philharmonische Orchester Aschaffenburg unter Leitung von Michael Millard am Samstagabend in der WIKA-Konzerthalle in Klingenberg bewiesen.
Die Klassik-Veranstaltung »Rachmaninow kennenlernen« des Philharmonischen Vereins Aschaffenburg führte 430 Zuhörerinnen und Zuhörer tief hinein in die musikalische Welt des »letzten Romantikers«, wie der 1873 auf dem Landgut Semjonowo (nahe Novgorod im Nordwesten Russlands) geborene und 1943 in Beverly Hills in Kalifornien gestorbene Komponist, Dirigent und Klaviervirtuose genannt wird.
Moderator Johannes Möller bereitete das Publikum auf einen »Abend mit einkomponierter Gänsehaut« vor, von der es tatsächlich jede Menge gab. Anschaulich stellte Möller die Lebensstationen des »Multitalents und Ausnahmekünstlers« vor. Dieser musste schon als Kind etliche Schicksalsschläge verkraften und sagte einmal von sich: »Als Mensch werde ich meinem Charakter nach niemals glücklich sein.« Womöglich lag das auch daran, dass Rachmaninow zeitlebens Sehnsucht nach seiner Heimat hatte, aus der er wegen der Oktoberrevolution geflüchtet war.
Schier unerschöpfliche Energie
Glücklich hat der »Großmeister der russischen Romantik« hingegen die Hörer seiner Musik gemacht, bis in die Gegenwart hinein und auch beim Konzert in Klingenberg. Dort entfaltete das Philharmonische Orchester Aschaffenburg atemberaubende Brillanz und schier unerschöpfliche Energie, um zwei Monumentalwerke der Musikgeschichte zum Strahlen zu bringen.
Den Solopart im 1909 entstandenen d-Moll-Klavierkonzert spielte die aus Russland stammende Solopianistin Elena Melnikova, die seit 1999 in Deutschland lebt. Ihr Spiel war kraftvoll, souverän und zugleich hochsensibel. Und die in Aschaffenburg lebende Klaviervirtuosin spielte mit spürbarer Freude. Es schien sie wenig zu beeindrucken, dass Rachmaninows Pianisten-Prüfstein, so Möller, »die meiste Anzahl von Tönen pro Sekunde aufweist – zählen Sie nicht mit!«. Immer wieder sah man ein leises Lächeln auf Melnikovas Gesicht, nicht nur bei zart perlenden melancholischen Läufen, sondern auch, wenn die Hände mit wuchtigen Oktavpassagen und halsbrecherischen Sprüngen beschäftigt waren.
Die Harmonie zwischen Solistin und Orchester – mit dem Melnikova nur zweimal geprobt hatte – ließ magische Momente entstehen, zum Beispiel den zu Herzen gehenden Dialog zwischen Klavier und Flöte im zweiten Satz »Intermezzo. Adagio«. Immer wieder durchbrach das Klavier die düstere Melancholie des Orchesters, funkelte und kämpfte und fand wieder zurück zu nachdenklicher Zartheit. Zu einem wahren Klangrausch steigerte sich der dritte Satz »Finale. Alla breve«, an dessen Schluss triumphierend die Tonart D-Dur aufstrahlte.
Von der Dunkelheit ins Licht führte nach der Pause auch Rachmaninows zweite Sinfonie in e-Moll opus 27. Diese wurde 1906 und 1907 in Dresden komponiert und bei der Uraufführung in St. Petersburg 1908 begeistert gefeiert. Nach dem tragischen Scheitern seiner ersten Sinfonie erlebte Rachmaninow mit ihr seine künstlerische Bestätigung. Für heutige Zuhörer und Orchester ist das viersätzige Monumentalwerk durchaus eine Zumutung – es sei denn, man liebt Brahms, Mahler und Bruckner über alles. Vor diesem Hintergrund – einer Epoche, in der sich Musikfreunde gern Zeit nahmen, um selbstvergessen in nicht enden wollenden Melodien zu baden – lohnte sich die Anstrengung, bis zum Schluss genau hinzuhören.
Gewisse neugierige Distanz
So wie Elena Melnikova trotz ihres engagierten Spiels eine gewisse neugierige Distanz zum legendären Klavierkonzert aufgebaut hatte, so ließ sich auch Rachmaninows Zweite aus einem übergeordneten Blickwinkel betrachten: aus dem der Psychologie, Soziologie und Kulturgeschichte. Moderator Möller hatte selbst die Spur gelegt: Er sprach bei seiner Einführung von der »Weite der Seelenlandschaft«, die sich in der Sinfonie auftue.
In Melodien lesen: Die Feierlichkeit eines Gottesdiensts, in der die – wundervolle – Oboe dem Priester eine Stimme gibt. Untergangsszenarien, die sich wie Felsenmeere ohne Ausweg auftürmen. Klarinetten, die von Liebe und inniger Verschmelzung singen. Und am Schluss eine nicht enden wollende Versöhnung, lebendig, belebend mit dem Einsatz der gesamten Percussionsabteilung und ungemein vielstimmig. Die Bachsche Polyphonie war nicht weit entfernt und holte die Seele nach Hause.
MELANIE POLLINGER